Am 11. Mai 2021 wurde die Istanbul-Konvention, das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, 10 Jahre alt. Der völkerrechtliche Vertrag stellt einen Meilenstein im Kampf gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt dar und auch Deutschland hat neben 33 anderen EU-Ländern die Istanbul-Konvention unterzeichnet und am 1. Februar 2018 ratifiziert, also rechtskräftig gemacht.
Was aber ist in den vergangenen 10 Jahren auf Länder-, Bundes- und EU-Ebene geschehen, um diese wichtige Konvention in der Praxis umzusetzen? Welche spürbaren Verbesserungen gibt es für Betroffene von häuslicher Gewalt oder für Frauen und Mädchen, die geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt sind? Was bedeutet es, dass die Türkei aus dem Vertrag ausgestiegen ist und Polen jetzt austreten will?
Als weiteren Teil der Veranstaltungsreihe zum Thema häusliche Gewalt, diskutierten Laura Wahl, frauen- und gleichstellungspolitische Sprecherin der Landtagsfraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Madeleine Henfling, innenpolitische Sprecherin der Fraktion, am 11. Mai 2021 in unserer Online-Veranstaltung „10 Jahre Istanbul-Konvention - Wo stehen wir in Thüringen, Deutschland und Europa?“ diese und weitere Fragen gemeinsam mit der Europa-Abgeordneten Pierrette Herzberger-Fofana (Mitglied im Ausschuss für die Rechte der Frauen und die Gleichstellung der Geschlechter), der Bundestagsabgeordneten Ulle Schauws (Sprecherin für Frauenpolitik) und vielen interessierten Teilnehmer*innen.
Pierrette Herzberger-Fofana startete in die Inputs mit einem Blick aus europäischer Ebene: „Leider wird der 10. Jahrestag der Istanbul-Konvention vom Austritt der Türkei überschattet. Sehr viele EU-Parlamentarier*innen sind über den Austritt der Türkei erschüttert und verurteilen diesen hart, da dieser als Rückschritt bei den Rechten der Frauen sowie als Gefahr für die Demokratie zu betrachten ist. Darüber hinaus haben die Demonstrationen von Frauenrechtler*innen in der Türkei gezeigt, dass diese Entscheidung nicht von der Bevölkerung getragen wird. Wir EU-Abgeordneten fordern die Türkei daher auf, diese Entscheidung rückgängig zu machen. Alleine im Jahr 2021 wurden in der Türkei bereits 79 so genannter Ehrenmorde verübt - dies zeigt eindeutig, wie wichtig die Istanbul-Konvention ist! Darüber hinaus wurde gerade durch die Corona-Pandemie in allen europäischen Ländern eine Zunahme der häuslichen Gewalt verzeichnet. In Anbetracht dessen ist der geplante Austritt Polens aus der Istanbul-Konvention umso katastrophaler.“
„Diese Entwicklung, die Zunahme an Fällen häuslicher Gewalt in der Corona-Pandemie, ist leider auch in Deutschland zu beobachten. Zwar ist das Thema auch wieder stärker in den Fokus gerückt, jedoch hat dies nicht zu einem expliziten Handeln seitens der Bundesregierung geführt. Gleiches gilt bedauerlicherweise generell in Bezug auf die Maßnahmen, die Deutschland seit der Ratifizierung im Jahr 2018 zur Implementierung der Istanbul-Konvention ergriffen hat. So existiert beispielsweise zwar eine Koordinierungsstelle, diese ist jedoch auf sechs unterschiedliche Ministerien aufgeteilt – das kritisieren wir Bündnisgrüne stark. Weiterhin fehlt es immer noch an der Einrichtung einer Monitoringstelle. Bisher ist in Deutschland noch viel zu wenig getan worden, um den Meilenstein Istanbul-Konvention umzusetzen“, bedauerte Ulle Schauws in ihrem Bericht über die Situation im Bund. „Neben dem Ausbau fehlender Frauenhausplätze sowie der Schaffung neuer Frauenhäuser muss sich ganz prinzipiell die Finanzierung ebenjener ändern. Das darf nicht länger allein Sache der Kommunen und Länder sein. Vielmehr sollte es eine Bundesfinanzierung von Frauenhausplätzen geben, damit der Zugang zu diesen für alle von überall möglich ist. Es kann nicht sein, dass Personen, die Schutz suchen, dass nicht in ganz Deutschland machen können. Gewaltschutz kann und darf keine freiwillige Leistung bleiben, sondern muss verpflichtend sein – daran muss sich auch der Bund beteiligen“, forderte Ulle Schauws, die frauenpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ist. „Daher haben wir als Fraktion auf Bundeseben einen Antrag eingebracht, durch den eine Bundesfinanzierung sowie der Rechtsanspruch auf Schutz erwirkt werden soll.“
Zuletzt legte auch Laura Wahl die Situation bezüglich der Umsetzung der Istanbul-Konvention in Thüringen dar. „Wie auf Bundeseben ist auch in Thüringen bisher nicht genug zur Umsetzung der Istanbul-Konvention getan worden. Positiv ist allerdings, dass ein runder Tisch zur anonymen Spurensicherung nach Vergewaltigungen sowie Fallkonferenzen bei häuslicher Gewalt eingeführt wurden. Dennoch fehlt in Thüringen eine ressortübergreifende Gesamtstrategie. Mit dem im letzten Plenum beschlossenen Antrag von Rot-Rot-Grün zur Umsetzung der Istanbul-Konvention wollen wir dies ändern. Nun soll ein konkreter Maßnahmenplan entwickelt und umgesetzt werden. Wichtig sind für uns dabei unter anderem sensibilisierende Schulungen für Polizei, Justiz und im Bildungsbereich, die Einführung eines Opferfonds für Betroffene von häuslicher Gewalt und vor allem der Ausbau von Frauen- & Männerhausplätzen sowie von barrierefreie Schutzwohnungen. Aber auch ein stärkerer Fokus auf geschlechterspezifische Gewalt im digitalen Raum sowie die Einrichtung einer Koordinierungsstelle und eines interdisziplinäres Begleitgremiums in Thüringen.“
In der anschließenden Debatte wurden, gemeinsam mit vielen interessierten Teilnehmer*innen, weitere zentrale Punkte herausgearbeitet, die bei der zukünftigen Implementierung der Istanbul-Konvention sowie in der allgemeinen Debatte um häusliche Gewalt eine zentrale Rolle spielen müssen:
Dabei wurde unter anderem auf die Frage der Prävention eingegangen. Prävention und Täter*innen-Arbeit müssen mehr in den Fokus rücken, da nur so das eigentliche Problem behandelt und die Spirale der Gewalt durchbrochen werden kann. Daher müsse Prävention gefördert werden und bereits in den Schulen beginnen, stellte Pierrette Herzberger-Fofana fest. Zudem sei die Täter*innen-Arbeit von außerordentlicher Bedeutung um Wiederholungstaten zu verhindern. Dazu benötige es in Thüringen wieder eine engere Zusammenarbeit zwischen Justiz und Täter*innenberatungsstellen, erklärte Torsten Kretschmer vom Projekt Orange Erfurt. Die Justiz müsse Täter*innen wieder aktiv an Beratungsstellen vermitteln – dies sei in den vergangenen Jahren fast gänzlich eingeschlafen.
Weiterhin seien verpflichtende Weiterbildungen über geschlechterspezifische Gewalt für bestimmte Berufsgruppen notwendig. „Auch, wenn es bei der Polizei dahingehend bereits Fortschritte gegeben hat, besteht noch Handlungsbedarf“, merkte Madeleine Henfling an. Insbesondere bei Staatsanwält*innen und Richter*innen seien dahingehend jedoch noch große Defizite vorhanden, kritisierte Ulle Schauws. Diese Weiterbildungen müssten aus bündnisgrüner Sicht unbedingt eingeführt werden und stünden nicht im Kontrast zur richterlichen Unabhängigkeit.
Ein weiterer Punkt spielte der in der gesamten Debatte eine wesentliche Rolle: intersektionale Aspekte müssen in Zukunft noch sehr viel stärker in den Diskurs über häusliche Gewalt einbezogen werden. So müssen insbesondere Frauen* mit Behinderungen und die besondere Gefährdung von inter* und trans* Menschen noch intensiver in die Debatte einfließen und mehr Beachtung finden. Weiterhin dürfe, auch wenn Frauen* und Mädchen einen Großteil der Opfer ausmachen, häusliche Gewalt gegen Männer nicht außer Acht gelassen oder herabgespielt werden und auch beachtet werden, dass Gewalt auch nicht nur in heterosexuellen Beziehungen stattfindet.
Häusliche Gewalt findet in allen sozialen Schichten, Altersklassen und Milieus gleichermaßen statt. Unsere gesamte Veranstaltungsreihe zum Thema häusliche Gewalt hat gezeigt, dass die Thematik mit großem Interesse verfolgt und diskutiert wird. Für uns bündnisgrüne Fraktion wurde dadurch einmal mehr deutlich, dass eine intensive öffentliche Debatte wichtig ist, sei es im innenpolitischen, justizpolitischen oder frauenpolitischen Kontext. Aus diesem Grund veranstalten wir am 28. Juni 2021 einen abschließenden Kongress zum Thema häusliche Gewalt, mit dem wir gemeinsam mit Vertreter*innen aus Gesellschaft, Wissenschaft und Politik sowie allen Interessierten über die Situation, Perspektiven für Prävention und Schutz gegen häusliche Gewalt in Thüringen zu diskutieren.
Wir bedanken uns herzlich bei Pierrette Herzberger-Fofana, Ulle Schauws und Laura Wahl für die interessanten Einblicke, bei Madeleine Henfling für die Moderation und natürlich bei allen Teilnehmer*innen für die anregende, konstruktive und spannende Debatte.