Interview mit Sylvia Kotting-Uhl zu Atomenergie

Interview: Sylvia Kotting-Uhl

Vor elf Jahren ereignete sich die Nuklearkatastrophe von Fukushima. Daraufhin beschlossen Bundestag und Bundesrat die Stilllegung der deutschen Atomkraftwerke bis Ende dieses Jahres.  Wir sprachen mit Sylvia Kotting-Uhl über die Nachhaltigkeit von Atomenergie, den russischen Angriffskrieg in der Ukraine und damit einhergehend die Angriffe auf die dortigen AKWs sowie die Energiewirtschaft der Zukunft.

Sylvia Kotting-Uhl war von 2005 bis 2021 Mitglied im Deutschen Bundestag für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und atompolitische Sprecherin, von 2018 bis 2021 Vorsitzende des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Obfrau im ersten Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der 17. Wahlperiode (Gorleben-Untersuchungsausschuss) sowie Mitglied in der Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe.

Die EU-Kommission will Atomenergie und Erdgas als nachhaltig und klimaneutral einstufen. Dies gab sie Anfang Februar bekannt. Welche Auswirkungen hat diese Einstufung?

Die Einstufung von Atomenergie als nachhaltig ist unverantwortlich. Hier haben sich Frankreich, das nicht nur seinen Strom noch immer zu über zwei Dritteln aus Atomreaktoren bezieht, sondern eben auch militärische Atommacht ist, und osteuropäische Länder, für die Atomkraft historisch Macht, Unabhängigkeit und Fortschritt symbolisiert, auf ungute Weise mit Ländern wie Deutschland getroffen, die auf Gas noch längere Zeit nicht verzichten wollen und können. Dass dabei der Deal, sowohl Atomkraft wie Gas als nachhaltig einzustufen, herauskam, ist kein Ruhmesblatt für die EU.

Die inzwischen immens teuer gewordenen Atom-Neubauten, deren Strom erneuerbarem Strom ökonomisch weit unterlegen ist, bekommen damit eine Finanzspritze, die im ein oder anderen Land - vor allem im Osten Europas - die in jeder Hinsicht unvernünftige Entscheidung pro Atom leichter machen könnten. Die weltweit vernetzte Atomindustrie und die Länder, die für ihre Atomwaffen nicht auf die sogenannte zivile Atomkraftnutzung verzichten können, haben damit einen Sieg errungen.

Die Botschaft von nachhaltiger Atomkraft an Schwellen- und Entwicklungsländer, die ihre Energieversorgung noch aufbauen, ist fatal. Anstatt zu den unschlagbar günstigen Erneuerbaren werden sie in ein ökonomisches, ökologisches und gesundheitliches Risiko gelockt.

Bislang haben russische Truppen Tschernobyl und das ukrainische AKW Saporischschja unter ihre Kontrolle gebracht. Die Besetzung und der Angriff dieser Anlagen löst große Sorgen aus. Wie schätzt du die aktuelle Gefahrenlage bezüglich eines atomaren Vorfalls in der Ukraine ein? Welche Auswirkungen hätte ein solcher Vorfall?

Krieg und Atomkraftwerke sind ein gefährliches Gespann. Die Besetzung der Atomanlagen ist eine weitere Drohgebärde Putins auch in Richtung EU. Der Unfall in Tschernobyl 1986 hatte Auswirkungen bis weit nach Deutschland hinein. 

Die Anlage Tschernobyl besteht ja nicht nur aus dem havarierten Reaktorblock, sondern aus drei weiteren abgeschalteten Reaktoren und den zugehörigen Brennelementebecken. Hier liegt ein großes Potential an durch Beschädigung freizusetzender Radioaktivität. Die Kühlung der Brennelemente ist elementar wichtig. Ist die Sicherung der Anlagen nicht mehr gewährleistet, wird es gefährlich.  Mit der inzwischen gekappten Stromleitung von Kiew zum AKW manifestiert sich die Gefahr. Dass die Internationale Atomenergiebehörde IAEA sofort erklärt hat, der Stromausfall habe keine kritischen Folgen für die Sicherheit, finde ich eher beunruhigend.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine zeigt: Der Ausbau erneuerbarer Energien kann zu einer Frage der nationalen Sicherheit werden. Welche Schritte müssen nun gegangen werden? Wie muss eine Energiewirtschaft der Zukunft aussehen?

Putins schändlicher Krieg macht überdeutlich: neben der elementaren Aufgabe des Klimaschutzes hängt auch die Unabhängigkeit und Nichterpressbarkeit Deutschlands und der gesamten EU vom Ausstieg aus den fossilen Energien ab. Die Zukunft liegt in den Erneuerbaren. Deren Ausbau muss nun endlich schnellstmöglich vorankommen. Ebenso wie Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und -einsparung, zur Speicherung der volatilen Energien, zur Sektorkopplung. Die Energieversorgung der Zukunft fußt auf dezentraler Erzeugung und möglichst kurzen Wegen, gleichzeitig braucht es EU-weite Regelungen und Interkonnektion, um die europäischen Potentiale optimal zur Versorgungssicherheit zu nutzen. Eine beschleunigte Energiewende in Deutschland hat ihren kurzfristigen Preis. Dieser Preis darf nicht - wie früher oft - dazu führen, die Maßnahmen bis zur Unwirksamkeit abzuschwächen, sondern muss an anderer Stelle ausgeglichen werden. Das meint der Begriff der sozial-ökologischen Transformation.