"Wir müssen alles geben, damit sich die Mehrheiten im nächsten Europaparlament nicht nach rechts verschieben"

Portrait von Terry Reintke

Terry Reintke, 31, sitzt für die Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament. Ihre Schwerpunktthemen sind insbesondere Gleichstellung und Sozialpolitik. Wir haben sie am Rande einer gemeinsamen Veranstaltung mit Madeleine Henfling zu den Auswirkungen der zukünftigen Kohäsionspolitik auf Thüringen zu einem Gespräch getroffen. Hier lest ihr den zweiten Teil zu Kohäsionspolitik, Rechtsruck und Europawahlen.
(Zu Teil I geht es hier.)

 

Die Kohäsionspolitik ist ein wichtiges Instrument der EU für die Modernisierung von Regionen, die in ihrer Entwicklung Nachholbedarf haben. Sowohl Kommission als auch Parlament haben vermehrt die Möglichkeit ins Spiel gebracht, in Zukunft die Mittelvergabe mit der Achtung rechtstaatlicher Prinzipien zu verknüpfen. Ist dieses Instrument durchsetzbar? Hältst du das für den richtigen Weg?

Terry: Eine Aussetzung der Strukturmittel für Mitgliedstaaten, die systematisch gegen die Grundwerte der EU verstoßen, sollte nur als ultima ratio eingesetzt werden. Wir vertreten als Grüne deswegen die Position, dass die Kommission nur dann die Verwendung von Strukturmitteln in einem Mitgliedstaat genau überwachen sollte, falls das Europäische Parlament, die Kommission oder ein Drittel der Mitgliedstaaten ernsthafte Bedenken haben, dass ein Mitgliedstaat gegen EU-Grundwerte verstößt. In diesem Fall könnten die Mittel in dem betreffenden Mitgliedstaat direkt von der Kommission verwaltet werden. So kann die Kommission in diesem Fall dann sicherstellen, dass alle kofinanzierten Projekte uneingeschränkt mit europäischem Recht vereinbar sind. Und nur falls der betreffende Mitgliedstaat auch weiterhin gegen EU-Werte verstoßen sollte, könnten Gelder ausgesetzt werden.

Parallel machen wir uns für einen zusätzlichen Rechtsstaatlichkeitsfonds und Mittel im EU-Haushalt stark, die gezielt die Zivilgesellschaft stärken. So stärken wir Aktiven vor Ort den Rücken und entziehen Menschen wie Orbán die Möglichkeit, ihre Arbeit zu verhindern. So können wir auch verhindern, dass das Gefühl entsteht, die EU lasse ihre Bürger*innen im Stich, wenn es darauf ankommt, ihnen ihre Rechte zu garantieren.
 

Die Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien einzelner Mitgliedsstaaten beschäftigt die Europäische Union. In einzelnen Ländern hebeln Populist*innen und Nationalist*innen demokratische Grundrechte aus und versuchen autoritäre Strukturen zu etablieren. Wie geht die Europäische Union mit diesen Gefahren um?

Die beiden krassesten, aber leider nicht die einzigen Beispiele für Mitgliedsstaaten, in denen die Rechtsstaatlichkeit und europäische Werte massiv bedroht sind, sind Polen und Ungarn. In Polen sind Anfang Juli erst Richter*innen des Supreme Court durch PiS-nahe Richter*innen ersetzt worden - ein weiterer Schritt zur Gleichschaltung des Justizsystems. In Ungarn werden Aktivitäten der Zivilgesellschaft massiv beschnitten, zuletzt durch ein Gesetz, das NGOs, die Flüchtlingen helfen, mit einer Sondersteuer belegt. Hier darf die EU nicht wegsehen! Es gibt das sogenannte Artikel-7-Verfahren, mit dem die Kommission in einen Dialog mit dem Mitgliedsstaat tritt und ihn auffordert, die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen. Am Ende steht als letzte Sanktion die Möglichkeit des Stimmrechtsentzugs im Rat.

Hierbei gibt es allerdings zwei Probleme. Beide beruhen darauf, dass es an den richtigen politischen Mehrheiten mangelt. Zum einen kommt es im Fall Ungarns erst gar nicht so weit, da die Konservativen, die CDU und die CSU, die mit Orbán in einer Parteienfamilie in Europa sind, diesen Schritt verhindern. Zum anderen braucht auch das Artikel-7-Verfahren für Sanktionen gegen Polen Einstimmigkeit im Rat - und die ist nicht in Sicht. Daher haben wir Grüne gefordert, dass die Kommission parallel ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen anstößt, um erst einmal weitere Gesetze zu stoppen, die gegen europäische Werte verstoßen. Leider hat die PiS-Regierung sich davon erstmal nicht beeindrucken lassen. Umso wichtiger ist es, die Aktivist*innen solidarisch zu unterstützen, die sich für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte vor Ort einsetzen.
 

Nächstes Jahr stehen wieder Europawahlen an. 2014 lag die Wahlbeteiligung leider europaweit nur bei 43% und in Deutschland bei 48%. Ist 2019 mit einer höheren Wahlbeteiligung zu rechnen? Was muss aus deiner Sicht geschehen, um das Interesse an Europapolitik bei den Wählerinnen und Wählern zu erhöhen?

Bei der nächsten Europawahl im Mai 2019 geht es um viel. Rechtspopulist*innen versuchen in ganz Europa die Errungenschaften unserer liberalen Gesellschaft zurückzudrehen und autoritäre Positionen wieder salonfähig zu machen. Konservative ermöglichen diesen Backlash mit ihrer „Weiter-so-Politik“ und ihrer Verweigerung gegenüber Reformen und mutiger Politik, die die EU handlungsfähig macht und ihre Herausforderungen angeht.

Gegen diesen Backlash müssen wir mit klaren Vorstellungen eines sozialeren, demokratischen, offenen und nachhaltigeren Europas antreten, die man am 26. Mai dann wählen kann. Es ist wichtig, dass nicht nur die Rechten zur Wahl mobilisieren, sondern jetzt mehr denn je gerade auch progressive Kräfte. Wir müssen im Wahlkampf also alles geben, damit sich die Mehrheiten im nächsten Europäischen Parlament nicht nach rechts verschieben. Und weil es im Europaparlament nicht Regierungs- und Oppositionsfraktionen gibt, können wir - anders als beispielsweise im Bundestag - mit einer starken Grünen Fraktion inhaltlich bei jedem einzelnen Gesetzgebungsverfahren viel erreichen.

 

 

 

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