"Viele Menschen merken erst seit dem Brexit, wie eng wir zusammengewachsen sind"

Portrait von Terry Reintke

Terry Reintke, 31, sitzt für die Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz im Europäischen Parlament. Ihre Schwerpunktthemen sind insbesondere Gleichstellung und Sozialpolitik. Wir haben sie am Rande einer gemeinsamen Veranstaltung mit Madeleine Henfling zu den Auswirkungen der zukünftigen Kohäsionspolitik auf Thüringen zu einem Gespräch getroffen. Hier lest ihr den ersten Teil. Thema: Der Brexit. 
(Zu Teil II geht es hier.)

 

In weniger als einem Jahr tritt Großbritannien aus der Europäischen Union aus. Siehst du die EU gut vorbereitet auf den Brexit?

Terry: Das Brexit-Referendum ist schon über zwei Jahre her. Und auch der letzte Europäische Rat hat in wichtigen Fragen keine Fortschritte gebracht. Immer noch sind Fragen der zukünftigen Grenze in Nordirland, von Zöllen oder der rechtlichen Grundlage eines Abkommens über die zukünftigen Beziehungen von Großbritannien mit der EU offen. Die Zeit drängt. Wenn keine Einigung erzielt wird, sind beispielsweise auch die Rechte von EU-Bürger*innen in Großbritannien ungeklärt - und umgekehrt. So weit darf es im März nächsten Jahres nicht kommen, wenn der eigentliche Brexit eintritt. Dass wir auch nach dem Rat im Juni keine Ergebnisse gesehen haben, liegt allerdings nicht am Auftreten der EU. Tatsächlich tritt sie nach wie vor geschlossen und konstruktiv auf.

 
Wie wird sich der Brexit auswirken?

Das ist schwer vorherzusagen, weil keine einzelnen Punkte wirklich fertig ausverhandelt ist, solange nicht das gesamte Paket steht. Es wird sehr darauf ankommen, wie die zukünftigen Beziehungen mit der EU aufgestellt sein werden. Es gibt jetzt aber schon Prognosen, dass die Wirtschaft gerade in Großbritannien leiden wird, weil der Zugang zum europäischen Markt nicht geregelt ist, und dass beispielsweise der ganze Gesundheitsbereich aufgrund des sich abzeichnenden Fachkräftemangels nicht mehr funktioniert.

Und die EU verliert mit Großbritannien eben nicht nur einen Nettozahler im EU-Haushalt. Die EU und hier besonders Deutschland müssen ebenfalls mit großen wirtschaftlichen Einbußen rechnen. Und politisch ist die Entscheidung einer knappen Mehrheit gegen eine „immer engere Union“ in einem populistisch aufgeladenen Referendum auch eine dramatische Aussage über Solidarität und Zusammenhalt. Umso mehr müssen wir denen, die für einen Verbleib gestimmt haben, weiterhin signalisieren, dass wir sie als Teil von Europa und der EU verstehen.

 
Hat der Brexit möglicherweise auch positive Folgen für die EU – zum Beispiel, dass die Staaten enger zusammenrücken?

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten treten in den Verhandlungen bislang geschlossen auf und machen einen Vorschlag nach dem anderen, wie die zukünftigen Beziehungen ausgestaltet sein können. Diese Einigkeit ist in der Tat bemerkenswert. Allerdings muss man auch sagen, dass sich diese Einigkeit gerade auch der Staats- und Regierungschef*innen in anderen Politikbereichen nicht zeigt - am krassesten in der Migrationspolitik.
Interessant ist auch, dass nach dem Brexit die Zustimmungswerte zur EU gestiegen sind, auch in Großbritannien. Viele Menschen merken, wie eng wir in der EU schon zusammengewachsen sind.  Es ist schade, dass es dafür den Verlust eines Mitgliedsstaates braucht. Wir sollten vielmehr in der EU so gute Politik machen, dass die EU auch so als Lösung statt als Ursache von Problemen angesehen wird.

 

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