"Die Einheit lebt auch von ihrer Unterschiedlichkeit"

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Seit 25 Jahren ist Deutschland wiedervereint. Dies haben wir zum Anlass genommen, um uns mit dem Politikwissenschaftler Dr. Peter Wurschi über den Mauerfall und die Aufarbeitung der SED-Diktatur, insbesondere unter einer rot-rot-grünen Regierungskoalition, in Thüringen zu unterhalten.

Dr. Peter Wuschi wurde in Suhl geboren und während der Friedlichen Revolution als Jugendlicher politisiert. Er promovierte zur DDR-Jugendprotestkultur in Thüringen und schrieb 2007 ein erstes Konzept zur Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Ettersberg und koordiniert dort unter anderem die historisch-politische Bildungsarbeit. In der Aufbauphase des „Geschichtsverbundes Thüringen“ war er für dessen Organisation zuständig und kennt dadurch nicht nur die Thüringer Aufarbeitungslandschaft, sondern auch die bundesweite Institutionenlandschaft. Zusammen mit WissenschaftlerInnen und/oder Aufarbeitungsinitiativen organisiert er verschiedenste Kooperationsprojekte und Workshop‘s. Seit 2010 ist er Lehrbeauftragter an der Universität Erfurt. Dr. Peter Wurschi ist Mitglied der Expertenkommission des Deutschen Bundestages zur Zukunft der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.   

 

1. Ist für Sie persönlich der 3. Oktober, der Tag der Deutschen Einheit, ein Tag zum Feiern?

Der 3. Oktober ist ein administrativ festgelegter Tag, der sich erst langsam in meinem Gedächtnis als Feiertag verhaftet. Die Zeit 1989/90 war voll von historischen Ereignissen. Der Tag der entscheidenden Montagsdemonstration am 9. Oktober 1989, der Tag des Mauerfalls am 9. November 1989 oder der Tag der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 – das sind für mich nach wie vor die emotionaleren und größer zu feiernden Tage. Aber ich freue mich auch über den 3. Oktober als Tag der Deutschen Einheit.

 

2. Was ist aus Ihrer Sicht der größte Erfolg der Wiedervereinigung? Und was ist das größte Versäumnis?

Ich möchte gar nicht den Satz Helmut Kohls von den „blühenden Landschaften“ aus dem historischen Zitatenschatz graben, aber ein Vierteljahrhundert nach 1990 hat er wohl seine Berechtigung. Der Osten Deutschlands hat in einem wahren Parforceritt einen Wiederaufbau hinter sich gebracht, der sich sehen lassen kann: Wenn wir zum Beispiel die Infrastruktur, die persönliche Lebenserwartung oder auch nur die Umweltbelastungen von 1989/90 zu Grunde legen, dann wird der Erfolg der Wiedervereinigung ganz greifbar.

Das mit der deutschten Wiedervereinigung einhergehende europäische Zusammenwachsen empfinde ich zudem als großes Glück. Seit 1989/90 können wir uns zunehmend frei in unserem Europa bewegen, wir stehen nicht mehr an Grenzen und zahlen mit der gleichen Währung. Durch dieses Europa zu reisen, erfüllt mich immer wieder mit Freude.

Wenn wir über Versäumnisse sprechen, dann bedauere ich, dass Europa den in den 1990er Jahren durchaus positiv besetzten Weg seiner politischen, wirtschaftlichen und sozialen Einigung aus den Augen verloren hat. Angesichts der aktuellen Krisen würde mir ein starkes und geeint handelndes Europa viel besser gefallen, als das ständige Moderieren von (mindestens) 28 Einzelinteressen.

 

3. Ist die Einheit für Sie nach 25 Jahren vollendet? Wie steht es aus Ihrer Sicht um die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West?

Wir leben in einem gemeinsamen Land auf dem Fundament unsers Grundgesetzes. In diesem Sinne ist die Einheit vollendet. Die Einheit lebt auch von ihrer Unterschiedlichkeit.

Dennoch ist es an uns, einen fortlaufenden gesellschaftlichen und politischen Diskurs zum Beispiel auch über die Angleichung oder (nötige) Diskrepanz von Einkommen und Lebensstilen sowie von Entwicklungsmöglichkeiten zu führen. Das sind jedoch, wie ich finde, weniger Fragen nach dem Stand der (un)vollendeten Einheit, sondern nach dem Ausdruck konkreten politischen Handelns.

 

4. Die Aufarbeitung der SED-Diktatur ist nach wie vor ein großes Thema. Wie steht es damit in Thüringen?

Thüringen bietet mit seiner dezentralen Aufarbeitungslandschaft (www.thueringer-geschichtsverbund.de) viele Möglichkeiten, sich mit der DDR zu beschäftigen. Angefangen von der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt über verschiedene Grenzmuseen bis hin zu Vereinen und Institutionen, die eine Vielzahl von Veranstaltungen, die sich mit der SED-Diktatur auseinandersetzen, anbieten.

Politisch und symbolisch ist einiges erreicht, doch scheint mir vieler Ortens der Wille zur Aufarbeitung noch nicht wirklich da. Oft existiert sowohl in den Elternhäusern, Schulen und unter Freunden immer noch Schweigen über die jüngste deutsche Geschichte.

Mit dem rot-rot-grünen Koalitionsvertrag in Thüringen wurde gerade für die Partei DIE LINKE eine Einordnung der DDR vorgenommen, hinter die sie schwerlich zurück kann. Das ist gut so, allerdings betont der Ministerpräsident der LINKEn gerade beim Thema der SED-Diktatur gerne, dass er aufgrund seiner Biografie nichts mit seiner Partei zu tun habe. Auch die Thüringer CDU will jetzt ihre Vergangenheit als „Blockflöten“-Partei aufarbeiten. Ich warte gespannt auf das Ergebnis, über das dann zu sprechen sein wird.

Letztendlich sind es jedoch nicht nur die Parteien, die sich ihrer Vergangenheit weiter stellen müssen. Auch zwischen den Menschen muss mehr über „früher“ gesprochen werden. Das funktioniert aber nur, wenn wir aus der Opfer- und Täter-Gegenüberstellung herauskommen und es funktioniert vor allem nur, wenn die System(mit)träger der DDR sich auch zu ihren Taten bekennen.

 

5. „Wir sind das Volk“, der Ausdruck von Demokratie und Freiheit der Montagsdemonstrationen von 1989/1990, ist zurzeit auf Kundgebungen der Thüringer AfD, rechtsextremistischer Parteien wie der NPD sowie von PEGIDA und ihren Ablegern gegen die aktuelle Asylpolitik zu hören. Was denken Sie darüber?

Eine schwierige Frage, denn „Das Volk“ sind alle, also auch jene, die auf „-IDA“- und AFD-Demos mit marschieren. Doch was 1989 als emanzipatorischer und hoffnungsvoller Ruf nach Öffnung und Freiheit gemeint war, wird heute als Parole für Abschottung und Defätismus benutzt. Wo 1989 der Wunsch nach Kommunikation in der Luft lag, schwingt heute ein patziges „Ich habe aber recht!“ mit. Ein „Ich habe aber recht!“, das mit solcher Wucht vorgetragen wird, dass überhaupt kein Dialog entstehen kann.

 

6. Zuletzt noch ein kleines Gedankenspiel: Inwiefern hat die Bundesrepublik Deutschland von der Wiedervereinigung profitiert? Wie stünde sie heute ohne die Wiedervereinigung da?

Die Bundesrepublik als Ganzes hat natürlich von der Wiedervereinigung profitiert. Sie ist kulturell vielfältiger und offener geworden. Wirtschaftlich steht sie gefestigt da und sie ist weltweit ein wichtiger Akteur.

Diese positive Gesamtschau sieht im privaten Bereich wesentlich differenzierter aus: Da haben die einen sicherlich mehr als die anderen von der Wiedervereinigung profitiert. Und das nicht einmal entlang der so gern bemühten Ossi-/Wessi-Konfliktlinie. Im individuellen Bereich hat es hüben wie drüben Gewinner und Verlierer gegeben. Gerade diese persönlichen Enttäuschungen und Verbitterungen der letzten 25 Jahre müssen wir als Gesellschaft ernst nehmen, denn nur so entsteht ein komplettes Bild des Einigungsprozesses. Einmal innezuhalten und zu fragen: Was hat es mir, meinen Freunden und meinem Umfeld gebracht? Ist das die Welt, in der meine Kinder groß werden sollen? Dies kann bei all der zelebrierten Jubelei nicht schaden.

Und um das Gedankenspiel auch schnell wieder zu beenden: Wenn es die BRD heute noch gäbe, gäbe es wohl auch die DDR noch ... und das möchte ich mir wirklich nicht vorstellen.

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